« 22. Dezember »

Wut

„‘Tschuldigung“, nuschelt Lea. Sie will an Weihnachten doch keinen Streit! Sie weiß ja auch, dass Timmy noch klein ist, erst vier, pah! Da kann er nicht ahnen, dass Papa erst noch die Kisten mit Kerzenhaltern und Christbaumkugeln vom Dachboden holen muss. Timmy weiß auch noch nicht, wie wichtig es ist, Weihnachten alles richtig zu machen: das richtige Essen kochen, zur richtigen Zeit in die Kirche gehen und auf keinen Fall mit der Bescherung anfangen, bevor es dunkel ist.

„Ich hole jetzt den Schlüssel zur Bodenklappe“, sagt Papa „und dann die Kisten.“

Aber Timmy hört nicht richtig zu. „Darf ich endlich die Kerzen fest machen? Darf ich?“, mault er.

Da wird Lea doch wieder ärgerlich. „Du musst warten, du hundertmal dummer Timmy!“, ruft sie.

Ihr kleiner Bruder fängt an zu heulen. „Du bist gemein!“, jault er.

„Mensch, Lea!“, schimpft Mama. „Reiß dich zusammen!“

Papa wird ganz rot im Gesicht? „Gebt doch mal eine Sekunde Ruhe!“, ruft er. „Wenigstens an Weihnachten!“ Er knallt den Schlüssel zur Dachbodenklappe auf den Tisch und rennt in den Garten.

„Papa ist auch gemein!“, heult Timmy. Er nimmt den Schlüssel und rennt Papa hinterher. Doch er gibt ihn nicht zurück. Stattdessen holt Timmy aus, der Schlüssel fliegt in hohem Bogen durch die Luft und verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Schnee.

Jetzt haben wir einen Weihnachtsbaum – aber keine müde Kugel und kein einzige Kerze! Lea kneift ganz fest die Augen zu, um nicht zu weinen.

Papa wird ganz rot im Gesicht

So! Papa ist wütend! Er knallt den Dachboden-Schlüssel auf den Tisch und rennt in den Garten.

Gar nicht schön, oder? Wenn einer wütend wird, dann fühlen sich die anderen Leute drum herum nämlich ganz schön schlecht.

Warum fühlen die anderen sich dann schlecht?
Ich glaube, weil sie Angst haben. Denn wenn einer wütend wird, dann weiß man nicht so genau: Was tut er als nächstes? Also: Wenn du wütend wirst, dann kannst du anderen Leuten um dich herum ganz schön Angst machen.

Also ist Wut ein schlechtes Gefühl? Ist es dann verboten, wütend zu sein?

Oh, nein! Wut ist ein ganz wichtiges Gefühl. Wut ist dazu da, dass ich meine Kraft zusammen sammele, wenn da etwas ist, das mich stört und mir nicht gut tut. Wut ist dazu da, dass ich etwas anders mache, wenn es schlecht für mich ist. Und darum ist Wut eigentlich ein gutes Gefühl – auch wenn es sich schlecht anfühlt. Komisch, oder?

Aber schau noch mal in unsere Geschichte: Der kleine Timmy nervt. Lea spielt sich als große Schwester auf. Mama ist hektisch und schlecht gelaunt. Irgendwie kommt die ganze Familie gerade durcheinander. – Das ist eine ziemlich blöde Situation. Aber keiner merkt es. Alle machen weiter mit nerven, zanken, schimpfen.

Da ist es eigentlich gut, dass Papa wütend wird. Seine Wut sagt ihm: „So kann ich nicht weitermachen! Das ist nicht gut für mich!“ Und dann rennt er raus. In den Garten. Und jetzt ist Pause. Alle merken: So können wir nicht weitermachen. Wir müssen etwas anders machen. Also hat Papas Wut etwas Gutes gemacht: Die Wut hat dafür gesorgt, dass eine schlechte Sache aufhört.

Kennst du doch auch, oder? Du versuchst, die Schleife an deinem Schuh zu binden und es will einfach nicht klappen. Du versuchst es drei Mal, vier Mal. Immer geht das blöde Ding wieder auf. Und langsam denkst Du: Will der Schuh mich ärgern oder bin ich einfach zu blöd? Und du wirst immer wütender – auf den Schuh, auf dich selbst. Und irgendwann knallst du den Schuh in die Ecke und bist … wütend. Und das ist gut. Denn jetzt kannst du aufhören damit, immer das gleiche zu tun. Nämlich die Schnürbänder zu vertüdeln. Jetzt kannst Du deinen Schuh nehmen, zu deiner großen Schwester gehen oder zu Papa, ihnen den Schuh geben und sagen: Du, ich krieg‘ das allein nicht hin. Kannst du mir mal helfen? – Deine Wut hat dir geholfen. Du hast aufgehört, das zu tun, was gar nicht gut für dich ist und nun kannst du anfangen dein Problem anders zu lösen.

Ja. Wut ist ein gutes Gefühl – auch wenn sie sich schlecht anfühlt.